Dies ist mit Abstand die häufigste Frage, die mir als Biographin gestellt wird: „Wer macht so was eigentlich, wer lässt seine eigene Biographie schreiben?“ Die Frage hat etwas mit Verunsicherung zu tun, in ihr schwingt oft mit: „Ich bin ja weder prominent noch Narzisst, ich brauche das nicht zu tun. Und eigentlich darf ich es auch gar nicht.“
Ja, ich stimme zu. Es ist nach wie vor etwas sehr Besonderes, wenn wir „ganz normalen Menschen“ unsere Biographie hinterlassen. Oft wissen wir nicht genau, wen würde unsere Lebensgeschichte überhaupt interessieren? Wir wollen uns niemandem aufdrängen und wollen auf keinen Fall prahlerisch wirken. Aber eigentlich ist es doch wundervoll, wenn wir unsere Geschichte festhalten und weitergeben.
Was bringt es uns „Normalen“ eigentlich, unsere Biographie zu schreiben?
Mein Sohn fragte mich neulich nach meinen beiden Großmüttern. Er hat sie nicht kennengelernt, doch sieht er sich gerne Fotos an, auf denen sie ihn als Baby im Arm halten. Ich überlegte: Was weiß ich eigentlich über das Leben meiner beiden Großmütter? Ich erinnere mich gut an sie, von ihrem Lebensweg habe ich dennoch bloß eine vage Ahnung. Sie waren wohl zwei „ganz normale Frauen“. Und doch kann man nicht sagen, sie hätten ein Leben gehabt, wie alle anderen auch. Denn eigentlich gibt es diese „normalen Leben“ gar nicht. Genau wie wir Höhen und Tiefen durchleben und uns entwickeln, so hatten auch unsere Vorfahren ihren Weg. Die Angst im Krieg zum Beispiel, die Anstrengungen des Neuanfangs und jede und jeder hatte auch ganz individuelle Herausforderungen.
Für mich sind diese beiden Großmütter zweifellos einzigartig. Nur zu gerne wüsste ich, welchen Blick sie eigentlich auf ihr Leben und auf sich selbst hatten. Und welchen Blick auf andere Menschen, die ich auch kenne, zum Beispiel auf meine Eltern …
Es gilt, ein Stück Geschichte zu bewahren, denn mit jeder persönlichen Geschichte verbindet sich auch ein Stück Weltgeschichte. Wenn eine Generation verschwunden ist, gibt es keine Zeitzeugen mehr, die wir fragen könnten.
Es ist mein hauptsächliches Anliegen, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass es in einer Biographie eben nicht darum geht, sich mit einer Erfolgsgeschichte zu brüsten. Es geht auch nicht in erster Linie um die unglaublichen Anekdoten, die wir sicherlich auch ab und zu erlebt haben.
Was könnte das sein, unser „ideelles Erbe“?
Es ist gerade unser tagtägliches Leben, das so bedeutsam ist. Doch wie oft vergessen wir unseren Alltag? Er kommt uns unspektakulär vor, wir sind ja so nahe dran. In hundert oder zweihundert Jahren sieht dies ganz anders aus (und meist wird schon viel früher nach unserer Geschichte gefragt). Unsere ureigene Perspektive auf die Welt, unser Hoffen, Bangen und Sehnen, unsere Zweifel, Erfahrungen und Erkenntnisse, all dies umfasst unser „ideelles Erbe“. Können wir ahnen, wie wertvoll unsere Lebensgeschichte für unsere Kinder sein wird?
Nicht zuletzt geht es beim Schreiben unserer Biographie um die Wertschätzung unseres tagtäglichen Daseins. Wir lernen, unser „ganz normales Lebens“ als etwas sehr Besonderes zu lieben. Wir orientieren uns neu und beginnen, uns wohlzufühlen in unseren Erinnerungen. Und wir sehen mit ganz neuen Augen auf die Strecke Leben, die noch vor uns liegt, die uns plötzlich viel weniger vorbestimmt, viel freier erscheint, als wir immer dachten.
Wie man geht man die eigene Biographie an?
Dieser Prozess ist so individuell wie die Menschen selbst. Drei Möglichkeiten, haben sich aber besonders bewährt:
- Die Biographie selber schreiben (in Seminaren, Schribgruppen & alleine)
- Die Biographie in Begleitung schreiben (Coaching)
- Die Biographie schreiben lassen (Interviews als Basis)
Ich habe Kunden in all diesen Bereichen, oftmals wechseln Kunden auch von einem Bereich in anderen. In jedem Fall gilt: Wenn es uns darum geht, unsere Werte und unsere Erfahrungen weiterzugeben, dann ist es eine passende und wundervolle Idee, uns auf den Weg zu unserer eigenen Biographie zu begeben. Der Druck eines Buches ist heutzutage sehr erschwinglich. Es ist also ein ebenso realistisches wie beglückendes Ziel, sein eigenes, fertiges Buch in Händen zu halten.
Dr. Claudia Löschner
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Vor dreieinhalb Jahren habe ich begonnen, über das Leben meines Großvaters zu recherchieren. Jetzt ist seine Biografie fast fertig. Ich habe allerlei Material auswerten können, vor allem seine Feldpostbriefe aus dem Ersten Weltkrieg sowie Akten in verschiedenen Archiven, die seine Nazi-Vergangenheit betreffen. Ich besitze auch zahlreiche Fotos von ihm, die meisten zeigen ihn auf Gruppenfotos im Kreis seiner Verwandten, manche als Frischvermählten und als Soldat. Dazu gibt es einige Erinnerungen seiner Kinder an ihn und ganz wenige eigene Erinnerungen von mir – ich war neun, als er starb.
Dank dieser Materialien weiß ich weit mehr über ihn als über meinen anderen Großvater und meine beiden Großmütter. Doch etwas fehlt in meinem Bild von Opa: der ganz normale, unspektakuläre Alltag jenseits der Kriege. Wie war es, als er meine Oma kennen lernte? Wie war sein Leben als Ehemann und Vater? Und was hat ihn innerlich bewegt? Was bedeuteten ihm seine Frau und seine Kinder? Wie hat er die Entbehrungen und Leiden der Kriegszeit verarbeitet? Das alles festzuhalten, hat er selbst vermutlich nie für nötig gehalten. Soviel ich weiß, hat er auch nie darüber gesprochen. Doch genau das würde mich heute interessieren.
Mein Opa ist seit mehr als 40 Jahren tot und hat seine Erinnerungen mit ins Grab genommen. Wie schade! Genauso meine Oma elf Jahre später. Von ihr sind aber wenigstens zwei Tagebücher erhalten, in denen sie die ersten Lebensjahre ihrer Kinder dokumentiert und das einige Einblicke in den Familienalltag der damaligen jungen Mutter gibt. Mit welcher Begeisterung und Rührung ich darin gelesen habe!
Und dann ist da noch meine Großtante, die Malerin. Auch ihre Biografie würde ich gern schreiben. Doch gibt es außer erhaltenen Bildern und Gedichten nur wenige Erinnerungsstücke, und so gut wie nichts gibt Aufschluss über ihren Lebens- und Berufsalltag. Ich kenne nur die Ergebnisse ihres Schaffens, aber weiß nichts über den Prozess, wie ihr Atelier aussah, wann und wie sie darin gearbeitet und was sie dabei empfunden hat. Und ich kann nur erahnen, was es für sie bedeutet hat, ehe- und kinderlos geblieben zu sein, aus gesundheitlichen Gründen ihre Ausbildung zur Zeichenlehrerin abbrechen zu müssen und zeitlebens ihren Geschwistern auf der Tasche zu liegen, da sie von ihrer Malerei nicht leben konnte. Es wäre mir viel wert, das alles zu wissen. Erst das ließe mich wirklich verstehen, was für ein Mensch sie war.
Wie Claudia kann ich nur jeden dazu ermutigen, eigene Erlebnisse und Erinnerungen aufzuschreiben – oder aufschreiben zu lassen, bevor es zu spät ist. Auch wenn man glaubt, dass es ja doch niemanden interessiert – das kann sich mit der Zeit ändern. Und irgendwann ist da vielleicht eine Tochter, ein Enkel, ein Urenkel oder eine Großnichte, die überglücklich ist, wenn sie in das Leben und Denken ihrer Vorfahren eintauchen kann.