Ich habe meine beiden Eltern immer wieder angestupst und aufgefordert, ihr Leben aufzuschreiben. Mein Vater machte vor elf Jahren einen Vorstoß, indem er in einem Brief an meine Kinder seine Kindheitserinnerungen an den Krieg schilderte. Einige Jahre später setzte er sich ernsthaft an seine Biografie. Letztes Jahr wurde sie fertig und er verteilte 50 Exemplare an Freunde und Verwandte. Meine Mutter war etwas schneller und hatte die erste Hälfte ihres Lebens schon im Jahr zuvor niedergeschrieben und als Buch drucken lassen.

Die beiden Lebensgeschichten meiner Eltern jetzt im Bücherregal stehen zu haben, bedeutet mir mehr als ich dachte. Sie zum Schreiben angeregt zu haben, war gewissermaßen meinem Beruf geschuldet gewesen. Ich merkte aber zunehmend, dass es mehr mit mir machte.

Ich fing an, darüber nachzudenken, was genau es war, was diese Biografien in mir auslösten. Und begann zu verstehen, warum adoptierte Kinder – so liebevoll sie auch in ihren Adoptivfamilien aufwachsen mögen – oft das Bedürfnis haben, nach ihren Herkunftsfamilien zu forschen. Das war bei mir natürlich anders, denn so wie meine Eltern bei ihren Eltern aufwuchsen, hatte auch ich das Glück, bei meinen Eltern aufzuwachsen. Dennoch fühle ich mich durch ihre Biografien irgendwie vollständiger.

Woran könnte das liegen?

Herkunft

Ich glaube, es gibt in uns ein Grundbedürfnis, uns unserer Herkunft zu versichern, so wie es das Grundbedürfnis eines Säuglings nach Körperkontakt gibt. Durch mündliche Erzählungen über die Vorfahren gaben die Familien früher ihr Wissen weiter und eine Idee davon, wie die Familie war und wie ihre Mitglieder tickten. Heute leben Familien weiter verstreut und es wird wenig von der Vergangenheit erzählt.

Heute kann eine Biografie dieses „Familienwissen“ bewahren.

Ahnenreihe

Dass es meine Urgroßmutter war, die sich mitten im ersten Weltkrieg ganz allein als Frau von Riga bis nach Moskau durchschlug, um ihren Mann ein letztes Mal zu sehen, lese ich ganz anders, als wenn es irgendeine Frau gewesen wäre. Eben weil es meine Urgroßmutter war. Ich bin ihre Nachfahrin, habe mit meinen Kindern weitere Nachfahren und fühle mich so in eine Ahnenreihe eingebettet, aufgehoben.

So wie ich bin

Indem ich lese, was und wie meine Eltern über ihr eigenes Leben geschrieben haben, verstehe ich sie besser. Warum haben sie diese Entscheidung getroffen, warum jene? Hatten sie überhaupt eine Wahl? Indem ich sie besser verstehe, verstehe ich auch mich selbst besser: Warum bin ich so wie ich bin und warum werden meine Kinder so, wie sie sind?

Durch die Biografien meiner Eltern enthüllt mir der berühmte Satz von Konfuzius seine volle Wahrheit: Erzähle mir die Vergangenheit und ich werde die Zukunft erkennen.