Urs Widmer, der große, großartige Urs Widmer ist tot, und ich habe ihn nicht gekannt. Nicht dass ich ihn hätte kennenlernen können, persönlich meine ich, aber ich habe auch seine Bücher nicht gelesen als er noch lebte und kam erst bei der Nachricht über seinen Tod darauf, dass mir etwas entgangen sein könnte. Also kaufte ich mir „Reise an den Rand des Universums“, seine Autobiografie, (wie könnte es anders sein), begann mit dem Lesen und hörte nicht mehr auf, bis ich damit fertig war.

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Erst später merkte ich, dass es sein wahrscheinlich längstes Buch ist und dass die anderen, seine vielen Erzählungen und „Das Buch des Vaters“ und „Der Geliebte der Mutter“ oftmals viel kürzer sind und dass ihm dieses Format vielleicht eher entspricht. Auch begriff ich, dass er, der seine Autobiografie mit den Worten beginnt: „Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiografie. Denn eine Autobiografe ist das letzte Buch. Hinter der Autobiografie ist nichts. Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr.“ – immer autobiografisch geschrieben hat und sein Schriftstellerleben lang damit beschäftigt war, seine eigenen „Erinnerungsrätsel“ zu entschlüsseln. Oder vielmehr zu verschlüsseln? Denn die absolute Wahrheit ist seine Sache nicht. Vielmehr erfindet Urs Widmer immer neue Versionen der Wahrheit.

Inwiefern seine Autobiografie nun die Wahrheit ist oder auch wieder nur eine ist im Grunde egal – nicht zuletzt ihm selbst, dem Autor. Er stellt die Phantasie oben an wenn er erklärt, wie man der „Falle des eigenen Lebens“ entkommt: „Du machst, hoffentlich rechtzeitig noch, aus deiner Not eine Tugend. Tust das Unabänderliche mit Lust und erfindest das Leben mit genau dem, was du erinnerst. Mit den Tatsachen. Mit dem, was du redlich und aufrichtig dafür zu halten gewillt bist. Denn früher einmal dachte ich, dass die Phantasie nichts anderes als ein besonders gutes Gedächtnis sei. Heute glaube ich eher, dass jedes Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist. Das Tatsächliche erinnern: Auch daraus kann nur ein Roman werden.“

Ist diese Erkenntnis nicht eine Erleichterung für alle ambitionierten Autobiografen, die ihre Erinnerungen aufschreiben wollen und nicht recht wissen, ob und wie sie anfangen sollen – auch aus der Furcht heraus, es falsch zu machen? Sich falsch zu erinnern? Die Tatsachen zu verdrehen? Urs Widmer ermutigt den Leser (und den Schreiber?, sich selbst?) dazu, die historische Wahrheit den Historikern überlassen und den eigenen Erinnerungen zu vertrauen: „Erst träumen wir von der Zukunft, dann leben wir sie, und am Ende, wenn diese gelebte Zukunft vergangen ist, erzählen wir sie uns noch einmal.“, gibt er dem Leser mit auf den Weg, bevor er den ersten Satz seiner eigentlichen Erinnerungen schreibt, der lautet: „So wurde ich gezeugt.“

In diesem Moment begann ich mich in den Autor Urs Widmer zu verlieben – nach diesem Prolog, in dem er den ganzen Zauber und die Kraft der Schriftstellerei, des Erinnerns, des Schreibens, des Dichtens und Verdichtens in wenigen Zeilen auf den Punkt bringt und dann so unvermittelt zu der ersten Tatsache seiner Existenz übergeht, von der jeder weiß, dass er sie – zu diesem Zeitpunkt noch zweigeteilt in Samen- und Eizelle – allenfalls vom Hörensagen kennen kann. Urs Widmer Autobiografie (soviel sei verraten: gezeugt wurde er neben einem tosenden Wasserfall im Lötschental) endet übrigens mit seinem 30. Lebensjahr. Es ist ein Jammer, dass er starb, bevor er für uns weiter sein Leben erfinden konnte.

Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums, Diogenes Verlag, ISBN 978-3-257-06868

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