Nicht viele werden bei dieser Frage „Ich“ rufen, vermute ich. Und doch: Sigrid Lichtenberger hat erreicht, was sich viele wünschen. Ihre Bücher, ihre Gedichtbände wurden und werden verlegt, obwohl sie es gar nicht darauf angelegt hatte.

Sigrid Lichtenberger kam 1923 in gehobenen gesellschaftlichen Verhältnissen in Leipzig zur Welt, was ihr allerdings nie wichtig gewesen zu sein scheint. Seit 1953 lebt sie in Bielefeld. Dort erlebte ich sie vor einigen Monaten, als sie, inzwischen 92-jährig, im Rahmen eines Erzählcafés aus ihren Büchern vorlas. Ihre autobiographischen, nachdenklichen, schlichten und oft mit leiser Ironie formulierten Texte haben mir sehr zugesagt, genauso wie mich die Schriftstellerin selbst in ihrer Ruhe und Bescheidenheit faszinierte. Weil ihre Texte verschiedene Facetten des „Frau-seins“ ihrer Generation in unserer Gesellschaft so authentisch spiegeln, möchte ich die Autorin hier vorstellen.

Wer verstehen möchte, was für ein Wandel im Rollenbild und im Selbstverständnis der Frauen im 20. Jahrhundert stattgefunden hat, der wird bei der Lektüre von Sigrid Lichtenbergers Büchern seinen Horizont erweitern können, insbesondere bei ihren Werken „Mein Ich im Gefüge der Zeit: Jung sein in den Jahren 1923 bis 1945“ und „Als ob sich Türen öffnen: Mein Lebensweg zwischen 1945 und 2000“.

Auffallend finde ich, wie sie von Jugend, ja von Kindheit an, zielstrebig ihren eigenen Weg einschlug, unkonventionelle Entscheidungen fällte, die vermutlich nicht ihrem gesellschaftlichen Umfeld entsprachen und dann doch in der klassischen Rolle der Mutter und Hausfrau der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit landete, wo sie sich gar nicht zuhause fühlte. Dass dem so war, ist insofern nachzuvollziehen, als sie vier Kinder, ihren Ehemann und einen Haushalt zu versorgen hatte. So war das in der Bundesrepublik Deutschland ja durchaus üblich, nachdem das erste Nachkriegs-Chaos in geordnete Bahnen gelenkt worden war.

Schon während des Zweiten Weltkrieges hatte Sigrid Lichtenberger in Leipzig ein Chemiestudium begonnen – und zwar mit Leib und Seele. Im Juli 1945, damals war Leipzig noch von den Amerikanern besetzt, verabschiedete sie zusammen mit ihrem Vater ihre Schwester, die spontan die Möglichkeit bekommen hatte, im Gefolge eines Wissenschaftlers in den Westen zu gehen. Es wurde bereits gemunkelt, die Russen wären bald da, um das Gebiet zu übernehmen, erinnert sich die Autorin, fügt aber hinzu, dass sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass die Amerikaner das gerade eroberte Gebiet wieder aufgeben würden. Unvermittelt kommt ihr der Gedanke, einfach zu ihrer Schwester auf die Ladefläche des Lastwagens zu springen und mitzufahren. Ihrem Vater sagt sie:
„Wenn nichts passiert, komme ich bald zurück.“
Aber es passiert etwas. Die Amerikaner geben das Gebiet an die russischen Besatzer ab und alles ändert sich. Sigrid Lichtenberger floh damals nicht aus unerträglichen Zuständen in den Westen. Sie nahm schlicht die Gelegenheit wahr, hinaus in die Welt zu fahren. Das hatte sie schon früher gewollt. Mich beeindruckt an dieser Schilderung, dass sie fuhr, ohne sich von ihrer Mutter zu verabschieden.
Die Situation zeigt die Entschlossenheit und den Mut dieser jungen Frau, die sich selbst in vielen Situationen jedoch als schüchtern schildert, sich dabei allerdings bewusst ist, wie anders ihre Lebensumstände im Vergleich zur Jugend der nachfolgenden Generationen waren. Egal, was Sigrid Lichtenberger erlebt oder passiert, immer macht sie sich dazu ihre Gedanken und es stellen sich ihr viele Fragen, auch die Frage nach Gott, die ihr Leben stark prägen wird.

Weil in Hannover – also in der Westzone – die Universitäten noch geschlossen sind und sie keine Arbeit findet, kehrt sie tatsächlich noch im selben Jahr  nach Leipzig zurück. Als sie die Stadt später zum zweiten Mal verlässt, muss sie heimlich über die grüne Grenze fliehen.
„Wer war ich damals? Warum war ich eine Frau, eine Studentin, die ihr bisheriges Leben hinter sich lassen wollte? Jetzt war die Chemie nicht mehr ‚alles‘ für mich wie bis Kriegsende. Ich hatte das Gefühl, eingeengt zu sein von bürgerlichen Vorstellungen, familiären Gewohnheiten und neuen politischen Parolen. Endlich wollte ich das eigene Leben finden [… ] Da ist nichts poetisch zu verklären. Ich habe meine Wurzeln aus der Erde gezogen, in der ich verwachsen war, ich bin in ein neues Land gestolpert und wusste nicht, ob ich je wieder einen Boden finden würde, in dem ich mich verwurzeln könnte.“
In der Folge schildert sie Erlebnisse und Beobachtungen aus ihrem Leben der folgenden Jahrzehnte, einerseits typisch für viele andere auch, andererseits eben sehr individuell aus ihrem persönlichen Erleben der Situationen. Vieles deutet sie nur an. Es ist ja autobiographisch und damit gilt es sicherlich, auf die Familie Rücksicht zu nehmen. Doch zwischen den Zeilen kann man lesen, was sie bewegt.

Schließlich hat sich die Familie eingerichtet. Es herrschen geordnete Verhältnisse. Das Kapitel „Hausfrau“ in ihrem Buch „Als ob sich Türen öffnen“ finde ich erschütternd, obwohl darin nichts steht, was ich nicht schon weiß.
„Der Holzlöffel windet sich durch den Spinat, von der Hausfrauen Hand geführt, die steht fest genagelt am Herd, die Füße auf dem Linoleum, das nicht fleckig sein darf, sondern jeden Tag gewischt werden soll. Jeden Tag? Da macht sie nicht mit. Das Telefon. Komme eine halbe Stunde später. Wer sollte schon anrufen, außer ihrem Mann. Sie kennt kaum jemand in der Stadt. Auch das ist noch übertrieben. Sie kennt nicht einen Menschen in der Stadt, in der sie seit Jahren wohnt, wohnt nicht in der Stadt, sondern in diesem Haus, um das ein Garten für Kinder als Spielplatz bereit ist und der unbeschwert Unkraut produziert, diesen kriechenden Giersch, der nicht auszurotten ist, auch wenn der Rücken schmerzt. […] Bin ich die Frau? Mit der halben Küchenschürze (bloß keine ganze), dem ewig gleichen Pulli, wer sieht sie denn, sie ist ein Utensil der Wohnung, ohne sie würde etwas fehlen, wie der Kleiderschrank fehlen würde oder die Kissen auf der Couch.“

Jahre hält sie das aus. Dann kommt der Zusammenbruch. Ihr Körper rebelliert, egal ob die Kinder sich schon selbst versorgen können oder nicht. In einer Klinik im Sauerland soll sie wieder ins Gleichgewicht kommen. Dort lernt sie den Begriff ‚Psychosomatik‘ kennen und was er bedeutet.
„Bei den Nazis hatte ich nie davon gehört, da war die Parole: ‚Gelobt sei, was hart macht‘[…] und ich lerne, […] dass ich manchmal Ruhe brauche, wenn ich’s gar nicht möchte. Dass ich für mich Zeit beanspruchen darf. […] Es entstehen Gedichte. Sie macht sich ihre Therapie schon selbst, sagt der Arzt, dem ich sie zeige.“
Das ist der vorsichtige Beginn ihres schriftstellerischen Wirkens. Offenbar ging es ihr nue um Öffentlichkeit, sondern um sich selbst in dieser Welt und um die Welt selbst. Doch es dauert noch viele Jahre, bis sie erkennt, dass sie beim Schreiben in ihrem Element ist. Sie fühlt sich als graue Maus in dem ach so festgefügten Aufgabenkorsett der Ehefrau und Mutter. Die anderen reisen, verlassen das Haus. Ihr bleibt dafür keine Zeit. Es ist auch nicht vorgesehen für eine Frau in ihrer gesellschaftlichen Rolle.

Am 19. Oktober 1963 drängen ihre Kinder sie, zu der Lesung von Hilde Domin zu gehen, die sie so sehnsüchtig gern besuchen möchte. Sie nennt den Abend ein Schlüsselerlebnis, ist tief bewegt und inspiriert.
„Kaum zurück im Haus purzeln mir Gedanken in Gedichtform aufs Papier. Ohne Reime!“

Sigrid Lichtenberger ist vielseitig interessiert und inzwischen auch engagiert. In ihren Erinnerungen skizziert sie mit knappen Worten unter anderem ein Bild der 70er-Jahre. Die 70er-Jahre, die so viel Veränderung und so viele Freiheiten für die Frauen brachten. Mit fast 50 lernt sie Autofahren. Sie, die mit Anfang 20 einst spontan auf einen Lastwagen sprang und ihr Leben entschlossen in die Hand nahm, tastet sich allmählich mit kaum noch vorhandenem Selbstwertgefühl – so scheint es mir – hinaus in eine neue Freiheit. Staunend nimmt sie zur Kenntnis, dass sie das Recht hat, einfach an einem Literaturseminar der Volkshochschule über moderne Literatur teilzunehmen. Aus erster Ablehnung entwickelt sich eine Beziehung zur Dozentin, die jahrzehntelang von beiden Seiten gepflegt wird.

Schließlich tut Sigrid Lichtenberger den entscheidenden Schritt: Sie meldet sich in der Volkshochschule für eine Schreibwerkstatt an und staunt wieder: Kein Widerstand, niemand, der sie aufhält. Es gibt keinen Grund, nicht hinzugehen. Aber da ist auch niemand, der sie drängt. Sie muss diese Entscheidung für sich fällen und fasst sich ein Herz. Ja, es kostet Mut, für eine Frau in ihrer Lebenssituation, sich mit Anfang 50 in einer Schreibwerkstatt anzumelden. Dieser Mut hat Sigrid Lichtenberger die Tür geöffnet, die ihr immer noch verschlossen war trotz aller Aktivität in Gesellschaft und Gemeinde. Es war offenbar im Rahmen der Aktivitäten dieser Schreibwerkstatt, an der sie lange teilnahm, dass der Verleger Günther Butkus vom Bielefelder Pendragon-Verlag sie entdeckte und seitdem ihre Schriften in seinem engagierten Verlag veröffentlicht.

Auch dieser Verlag dürfte einen näheren Blick lohnen, in der Verlagsszene, in der sich immer mehr um Geld als um Literatur dreht. Doch davon (vielleicht) ein andermal …

© Beate Friedrich-Lautenbach

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