Auch wenn die Anzahl meiner Biografiekunden (also die, die wirklich “Kunden” geworden sind) recht überschaubar geblieben ist, so ist doch die Erfahrung aus Akquise und Vorgesprächen recht umfangreich. Man telefoniert oder trifft sich mit bis dato unbekannten Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund den Wunsch haben, ihre Lebensgeschichte aufzeichnen zu lassen. Das Spektrum der Leute, die man kennenlernt reicht von der liebenswerten alten Dame, die eigentlich nicht aus eigenem Antrieb sondern ihren Kindern oder Enkeln zuliebe mitspielt, bis hin zu extrovertierten, bisweilen geradezu narzisstischen Persönlichkeiten, die endlich die Gelegenheit wahrnehmen wollen, der Welt ihre Sicht der Dinge mitzuteilen.

Beiden genannten Extreme bringen ihre Risiken mit sich, wenn auch ganz unterschiedlicher Art. Die Bescheidenen und Zurückhaltenden sind im schlimmsten Falle lustlos, haben aber nicht Nein sagen können und nur aus gutem Willen ihren Angehörigen gegenüber eingewilligt. Da können dann die Interview-Termin zäh und mühsam verlaufen, weil “das Opfer” eigentlich überhaupt nicht rausrücken will. Keine gute Voraussetzung für ein schönes Buch zum guten Schluss. Die anderen versuchen schlimmstenfalls, einen vor ihren Karren zu spannen für einen Rachefeldzug gegen ihre(n) Ex-Partner(in), gegen eine Firma oder eine Behörde bis hin zum “Staat”. Man sollte das möglichst beim Vorgespräch schon spitzkriegen und seine Konsequenzen ziehen. Für mich haben die in zwei Fällen bedeutet, dankend anzulehnen; nicht für Geld und gute Worte wollte ich mir diese spezillen Kandidaten zu Geschäftspartnern machen.

Aber es gibt auch noch die anderen. Mir hat das Glück eine freundliche alte Dame beschert, die weder scheu noch eitel ist und frei von der Leber weg erzählt. Und was sie zu erzählen hat, ist mehr als wir alle wohl je erleben möchten. Von früher Kindheit an war ihre kinderreiche Familie nie mit Reichtum gesegnet gewesen. Der Vater war alles andere als ein “Hauptverdiener”, und oft fehlte es am nötigsten. So manches Loch ließ sich nur durch Schmuggeln über die nahe Landesgrenze stopfen. Schließlich hat sie bei Kriegsende wochenlang zwischen den Fronten der Amerikaner und der Wehrmacht im Keller gehockt. Ihr Glück war, dass ihre gesamte Familie das lebend überstanden hat. Und dann, in den 50er Jahren? Viel hat das Wirtschaftswunder auch da nicht angespült.

Menschen mit einer solchen Lebensgeschichte sind nicht selten im Alter verbittert und krank (oder reden zumindest ständig über Krankheiten). Ich will keinesfalls denen nach dem Mund reden, die fordern, man solle stets in Bescheidenheit und Demut zufrieden sein, denn meine Kundin ist an ihren Erfahrungen gewachsen und hat es gelernt, für ihre Rechte und Interessen einzustehen. Nein, es geht mir darum, wie schön es ist, wenn jemand trotz vielen Entbehrungen und Nöte im Alter sagen kann “Es war gut”. Wenn jemand sich nicht seiner Tränen schämt und ohne Tabus (und offenbar auch ohne Traumatisierungen) Schönes und Hässliches, Lustiges und Trauriges erzählen mag.

Ich betrachte diese Zusammenarbeit als einen Glücksfall für mein Biografenleben. Wer weiß schon, ob ich soviel Glück noch einmal haben werde… .