Georg Stölzer (Göttingen), Mitgliedertreffen Biographiezentrum in Bad Sooden-Allendorf, 05.-07.04.2013

Mitschrift zum Seminarbesuch in Göttingen Januar 2013:  „…bis ins dritte und vierte Glied…“? – Workshop für Kinder der Kriegskinder (worunter diejenigen zu verstehen sind, deren Eltern zwischen 1930 und 1945 geboren sind / waren).

Im Nachfolgenden werden sowohl der Dozent als auch die weiteren 14 Teilnehmenden sowie meine eigenen Beobachtungen wider gegeben:

1/3 der Kriegskinder waren nicht direkt vom Krieg betroffen –z.B. Emsland

1/3 haben zumindest die Abwesenheit des Vaters erlebt

1/3 haben traumatisierende Erfahrungen gemacht

Anmerkung zum ersten Drittel: Zweifel bleiben dennoch, denn selbst in ruhigeren ländlichen Gegenden durfte man ja öffentlich nicht alles sagen. Außerdem musste man ja auch zum Jungvolk oder in die HJ und konnte sich auch anderen kollektiven Aktivitäten nicht entziehen.

Resilienzforschung = Was befähigt Menschen, schweres Leid durchzustehen?

Man kann sich nur jemanden Belastbaren anvertrauen, der einen nicht abweist.

Intergenerationale Weitergabe der Erwachsenen an die Kriegskinder:

1) blockierte Trauer

2) Weitergabe von Schuld (u.a. auch, Deutscher zu sein/Art historischer Verantwortung)

3) Auftrag zur Wiedergutmachung (bis hin zu Versöhnung mit allen, die mit einem   familiär sowie außerfamiliär zu tun haben –d.h. ggf. auch unerfüllbare Auftrag)

4) Parentifizierung =Kind bekommt Elternrolle

5) Familiengeheimnisse dürfen nicht anderen zugänglich werden

Heroisierungs- und Viktimisierungsgechichten:

Heroisierung: z.B. Nicht-Ignoranz von Zwangsarbeitern durch Grüßen

Viktimisierung: Kriegseinsatz, evtl. noch mit Verwundung oder Tod

Manchen vaterlosen bis Kriegsende geborenen Kindern wurde es verwehrt, immer wieder nach dem nicht aus dem Krieg zurückgekehrten Vater zu fragen, sodass sie damit regelrecht isoliert wurden.

Eigene Mitschriften bzw. Eindrücke vom Workshop:

Mehrere Elternteile von Teilnehmern waren dagegen, dass ihre Kinder an diesem Seminar teilnahmen –nach dem Motto, dass man die Vergangenheit ruhen lassen und nichts wieder aufrütteln sollte (*). Die gleichen wollten auch sonst nicht über die Vergangenheit erzählen. Andere wiederum erzählten immer wieder, meistens die gleichen Geschichten, davon. Die Generation der Kriegskinder lehnt es vielmehr als die ihrer Kinder ab, sich Psychologen anzuvertrauen, denn das galt noch lange Zeit lang als verpönt und hatte das Klischee von Verrücktheit. Zudem gab es bei/nach Kriegsende kaum bis wenig Psychotherapeuten und wenn, waren diese auch mehr oder weniger betroffen von den Kriegsgeschehnissen. Darüber hinaus hätte man gar kein ganzes Volk therapieren können. (*:) Ein weiterer Aspekt ist, dass es manchmal –zumindest für bestimmte Menschen- besser sein kann, schlimme Erfahrungen zu verdrängen anstatt sie aufzuarbeiten –kann man aber nicht so ganz pauschal bzw. für den Einzelnen beantworten.

Verantwortlichkeiten durch Fehlen bzw. Kriegseinsatz von Vätern wurde den damaligen Kriegskindern übertragen bzw. aufgebürdet. Beispiel: Ernährung der Mutter bzw. Geschwister durch Arbeiten oder auch Diebstahl. Bestimmte Rollen wurden somit auch regelrecht weitervererbt.

(Mitunter auch) Unbewusst anerzogene Verhaltensweisen: Eigene Meinungen sollten in der Schule oder am Arbeitsplatz –aus Furcht vor irgendwelchen Konsequenzen- nicht geäußert werden. Selbstvertrauen wurde oft nicht vermittelt, gleichzeitig oft auch ein überbehütetes Aufgewachsensein. Anmerkung: Dennoch manchmal bessere Fähigkeit, mit schwierigen Situationen umzugehen oder belastbarer zu sein als z.B. 30-Jährige, auch wenn man nicht immer so schlagfertig ist und letztere nach außen hin mehr Selbstbewusstsein ausstrahlen, was mitunter jedoch täuscht.

Erst mit Mitte 40 und aufwärts entstand bei den meisten hier Teilnehmenden das Verständnis oder mindestens der Versuch hierzu, die eigenen Eltern und deren Biografie besser verstehen zu können. Vergleiche zwischen der alten und mittleren Generation wurden gezogen, was durchaus mit weiterer Selbsterkenntnis einherging. Dies ist eine Entwicklung, die für einen vor 10-20 Jahren noch undenkbar war. Allerdings bleiben immer gewisse nicht nachvollziehbare Sachen bzgl. Verhalten und Ansichten der Elterngeneration.

Hemmschwelle den eigenen Eltern, ggf. auch Geschwistern und somit ebenso Außenstehenden gegenüber, Kritik loszuwerden –Folge: Aufstauen von Emotionen und Entstehung nachhaltig schlechter Gedanken. Eine Seminarteilnehmerin meinte, es sei gut, dass Gedanken z.B. nicht töten könnten. Doch zumindest in der unterbewussten hat es sicherlich schon Auswirkungen, mindestens in den Verhaltensweisen.

Streit innerhalb der Familie durfte nicht ausgetragen werden –um des lieben Friedens willen.

Bestimmte typische und mitunter wiederkehrende Sprüche der Elterngeneration (=der Kriegskinder) waren z.B.:

„Stellt euch nicht so an, ich/wir habe/n viel Schlimmeres erlebt.“

„Ihr habt nie richtigen Hunger erlebt. Vielleicht wäre es aber besser gewesen, so was auch mal erlebt zu haben.“ Anmerkung: Kann natürlich darauf abzielen, dass man dann wohl mehr zu schätzen wüsste, was man hat –doch sollte man sich nun andererseits schuldig fühlen? Ist es nun eher gut oder schlecht, bestimmte negative Erfahrungen nicht gemacht zu haben (z.B. um das Positive –wie Wohlstand- besser schätzen zu können)?

„Was ich schon alles für dich/euch in meinem Leben getan habe!“ Anmerkung: Als eine Art von Einfordern von Dankbarkeit zu verstehen.

„Ihr habt nie Prügel von mir gekriegt, aber ich habe öfters Prügel gekriegt zu Hause und in der Schule.“

Das Thema 2. Weltkrieg ist noch per Gedenktagen und Fernsehen aktuell. Dass jetzt die Kinder der Kriegskinder zunehmend an Gehör gewinnen, liegt wohl auch daran, dass die Kriegskinder langsam aussterben und deren Kinder eher als Ohrenzeugen ihrer Eltern gefragt werden nach dem, was die Eltern erlebt bzw. durchlitten haben (beispielsweise bei späteren Fernsehdokumentationen, schon jetzt gibt es immer öfter Historiker anstelle von Zeitzeugen, die sich öffentlich dazu äußern). Erst im Erwachsenenalter bildet sich zudem vermehrt eine Art innere Loslösung von den Eltern sowie Eigenständigkeit und Vertretung persönlicher Ansichten. Während der 80er Jahre gab es noch genügend Leute, die bei Kriegende noch (mindestens) junge Erwachsene waren und als Zeugen erster Güte quasi davon berichten konnten –d.h. vor rund 30 Jahren wurden die eigentlichen Kriegskinder aus diesem Grund bei weitem nicht so ernst genommen, weil sie aus Sicht von deren Eltern nichts mitzureden hatten, gerade durch den Sachverhalt, während der Kriegszeit eben „nur“ Kinder gewesen zu sein. Übrigens galt man in den 80ern oft noch als Kriegsdienstverweigerer, sprich Zivildienstleistender, bei vielen alten Leuten noch als Drückeberger, was sich im Laufe der Jahre zum Glück aber stark gewandelt hat.

Möge das Thema allen übrigen BiographInnen als Inspiration dienen, auch diese noch nahezu vollständige Zielgruppe der Generation des mittleren Alters per Veranstaltungen, Inseraten o.a. miteinzubeziehen. Es lohnt sich sicherlich, deren Ansichten und Lebensläufe ebenso adäquat zu Papier zu bringen.